„Beifall für eine argentinische Mutter“

(Ein Portrait von Mirta, Abdruck, Buenos Aires „La Nacion“ am 5.5.07, von Alicia Dujovne Ortiz)

lanacion„Europa kam mir sehr schön, sehr sauber und leer vor. Weder in Bratislava noch in München waren viele Leute auf der Strasse“. Dieses Bild vom Norden Europas würde auch jeder andere argentinische, oder neapolitanische Tourist teilen, aber wenn man das Wohnviertel kennt, wo diese überraschte, sowenig Gereiste herkommt, dann versteht man ihre Aussage noch besser.

Das Haus von Mirta steht in Josè Suàrez in der näheren Provinz von Buenos Aires, einem seit den Sechzigern angesiedelten Wohnviertel, das in den städtischen Plänen bis heute noch als überschwemmt ausgewiesen ist. Heute trennt ein Müllstreifen, von Schutt begrenzt, die erste Ansiedlung mit schon fertigen Häuschen. Auf der anderen Seite stehen die Behausungen, deren Dächer aus Stöcken, Plastik und Sackleinen bestehen, wo sich jene gerade angesiedelt haben, die gerade aus der Provinz ankamen und aus dem Elend geflohen sind.

Wenn ich durch das Wohngebiet von Mirta gehe verstehe ich die Aussage über europäische Städte besser. Wenn die nordischen Städte farblos und voller Einsamkeit sind, hat Josè Luis Suárez genau das Gegenteil zu bieten, aus dem einfachen Grund, dass die Leute draußen leben – denn das Innere der Häuser ist nicht besonders einladend. Tagsüber beladen sie ihre Müllwägelchen, deren Inhalte dann am Ende des Tages zunächst rund um ihre Häuser zwischengelagert werden. Abends öffnen die Kioske. Jeder der irgendetwas zu verkaufen hat öffnet eine Luke in seiner Wand, um seine Ware anzubieten. Ein Mädchen ganz in Rot, mit einer roten Schirmkappe, sieht fast aus wie in einem Schaufenster und preist mit einladendem Lächeln drei Kekspäckchen und 2 Cola-Flaschen an, denn mehr Lebensmittel hat sie nicht zu bieten. Kleine Kinder laufen dazwischen herum, mit ihrer lauten und auch oftmals aggressiven Art. Laut Mirtas Sohn, Ernest Paret , hat das „Müllsammeln“ sie abgestumpft, hervorgerufen durch die immer währenden Auseinandersetzungen: die Schüsse, die Drogen, die oft gegen Mädchen getauscht werden. Sie charakterisieren einer dieser Viertel des Großraums Buenos Aires, wo alles möglich ist, weil der öffentliche Raum eine fatale Kombination zwischen dem Unfassbaren und dem Realen ist.

Mirta Justina Belizàn ist in Santa Fè geboren. Sie war neunzehn und hatte vier Kinder als die Familie nach Suàrez umzog, weil Grundstücke „vergeben“ wurden. Dies wurde besiegelt einzig und allein dadurch, dass eine beauftragte Frau das Maß mit einer Schnur absteckte und verteilte. 1967 kam dann die große Überflutung des Flusses Reconquista. Es folgten einige weitere. Die Bezeichnung „überflutetes Gebiet“ war nicht umsonst. Als die Überflutung zum ersten Mal geschah, sagte Mirta damals zu ihrem gehbehinderten Vater: „meiner Meinung nach ist dort hinten Wasser“! Aber der Vater glaubte ihr nicht. Und so fuhr sie mit ihrem Müllwägelchen in die Stadt mit dem Eindruck, das in der Ferne ein Spiegel leuchtete. Als sie nach Stunden mit dem „237“ (Bus) wieder zurückkam begegneten ihr Leute, die mit Säcken und Tüten weinend vorbeizogen.“ Ich fand meine Straße nicht mehr. Ich sah meinen Bruder, bis zur Hüfte im Wasser, der meine Tochter hochhob. Mein Entsetzen war groß, dass ich sie zunächst nicht einmal erkannte. Sie brachten uns zum Flugstützpunkt von El Pakomar. Vierzig Tage später, als wir wieder zurückkehrten konnten, war alles was wir besaßen verfault“. Ab diesem Zeitpunkt maßen wir das Wasser mit einem Stab. „Aber man brauchte keine Überschwemmung um sich die Füße nass zu machen“ erzählt Ernesto, familiär Lalo genannt. „Abends ließen wir immer die Schuhe irgendwo erhöht stehen, damit sie nicht davon schwimmen konnten“. Heute ist Mirta sechzig Jahre alt und hat acht Kinder (3 Kinder mit abgeschlossener Grundschule und einen, Lalo, mit drei Jahren Mittelschule), 39 Enkelkinder (vier von ihnen sind gestorben) und fünfzehn Urenkeln. „ Alle habe ich sie aufgezogen, während ich als Metzgerin, als Haushälterin oder hauptsächlich Zeitungen und den Müll sammelnd gearbeitet habe. Soweit ich mich erinnere war alles Traurigkeit. Ich wußte nur, Ferien und ein Bad mit Schaum sind Sachen der Reichen“. Mirta war zwanzig Jahre alt als sie anfing, die Dinge in ihrem Umfeld zu sehen und zu beobachten. Klar, die Mirta von damals, hatte nicht die Umsicht und die Festigkeit die sie heute hat. Aber die Schwierigkeiten von damals zwangen sie auch sich in diesen Fels zu verwandeln, der sie heute geworden ist. Häufig sammelten sich die Leute aus der Bedürftigkeit heraus ohne zu wissen was sie tun sollen. Es gibt 12jährige Mütter, drogensüchtig, die nicht wissen, wie sie sich um ihre Kinder kümmern sollen. Während der Krise 2001 musste wieder verstärkt Müll gesammelt und wiederverwertet werden, um zu essen und was zum anziehen zu haben. Aber aus dem Problem kam auch die Lösung, nämlich sich zusammenzutun. Gemeinsam mit ihrem Sohn gründete sie eine Cooperative der Cartonieros (cooptrenblanco@argentina.com) für das Sammeln von Plastikflaschen, die gereinigt, sortiert, gemahlen und an Fabriken mit erhöhtem Wert weiterverkauft werden konnten. „Anfangs machten wir es aus der Not heraus, ohne an die Konsequenzen zu denken - heute sehen wir es als Ausweg, sich weiter zu entwickeln und sich weiterzubilden wo es nötig ist “ sagt Mirta. Mit drei Frauen besucht sie jetzt ganz aktuell einen Computerkurs. „Viele geben auf. Nur Müll zu sammeln kommt ihnen leichter vor als sich zusätzlich noch zu organisieren“ führt Mirta weiter aus. „Mit den besetzten Fabriken geschieht das gleiche“ mischt sich Lalo, ein, „die Arbeiter befinden sich an der Stelle ihrer Chefs, sie improvisieren, und bemerken die Revolution nicht, die sie vorantreiben, wie sie Zukunft aufbauen, Söhne von niemandem, schwanger mit etwas ohne zu wissen von was. Aber ich bin mir sicher, dass sie davon überzeugt sind, dass es von Nutzen ist, für unsere Kinder dies zu tun, damit sie wissen, dass man mit gemeinsamer Organisation und mit vollem Einsatz seine Träume erreichen kann“. Lalo Paret, hat diese soziale und politische Klarheit, die ihn zu jemandem macht, dem man zuhören sollte. Als Junge sammelte er Müll, heute ist er Mitglied von zwei NGO´s einer nordamerikanischen, „La Base“ (www.labase.org.ar), und einer argentinischen „Va de Vuelta“ (www.vadevuelta.org.ar). Er wurde schon in verschiedene Länder eingeladen um seine Ideen vorzustellen. Auf dem Sozialforum in Brasilien lernte er die Deutsche Manuela Stein kennen, dort erzählte er ihr auch von seiner Mutter, die er bewundert. Manuelas Eltern, Hans und Renate Stein, besuchten danach Josè Leòn Suarez um Mirta kennenzulernen. Sie sprachen ein Spanisch eines anderen Planeten, aber ihre Fragen verstanden wir: “Was kann man in diesem Viertel tun?“ Mirta hatte die Antwort: „Ein Haus für Kinder, Mütter und Familien. Um dort mit unseren Frauen zu arbeiten in dem jede von der anderen etwas lernen kann. Dass sie wieder lernen könnten, sich zu wappnen, damit man ihnen wieder zuhört, wie sie ihren Kindern wieder beibringen können, dass man am Tisch isst und nachmittags wieder nach Hause geht um die Milch zu trinken. Ganz einfache Dinge, so wie man es tun soll“. Mirtas Wunsch zeigt die Schattenseite der Realität im Viertel auf. Das Elend hat beispielsweise dazu geführt, dass man simple Abläufe vergessen hat wie sich zum Essen an den Tisch zu setzen. Bald darauf erhielt Mirta Justina Belizàn eine Einladung zum internationalen Kongress der Mütter- und Familienzentren, der in Bratislava stattfand. Alles verlief mit einer natürlichen Leichtigkeit und einer Freude, die perfekt war. Ihre eigenen Worte: „ der Arme träumt davon und wenn es Wirklichkeit wird, erschrickt er“. Auf dem Kongress in der Slowakei war mit eingeladen Sonia Sanchez, die kirchliche Mitarbeiterin der Kapelle in Vicento Catalano. In Bratislava stellte sich heraus, dass Renate Stein mit im Vorstand der internationalen Mütterzentren „Mine“ war, diese Zentren sich vor Jahren in München gründeten und seither zahlreich sind in vielen Städten und Ländern, zu welchen auch bald Josè Leòn Suàrez zählen wird. Als mir im Kongress das Wort gegeben wurde, konnte mich niemand mehr aufhalten. Vor mir hatte die Vertreterin eines Landes aus Afrika gesprochen und die Situation, die sie erzählte, war schlimmer als die unsere. - Sie haben nämlich gar kein Wasser! Danach sagte ich, dass wir unsere Zukunft retten wollen, die verloren ist und dass wir viel brauchen, aber zum Glück nicht so viel wie sie. Was brauchen wir? „Dass sie uns helfen wieder selber zurechtzukommen ohne uns etwas zu schenken“. Hier in Buenos Aires wird mit so vielen Essensausgaben die Faulheit unterstützt. Die Mütter schicken die Kinder mit Plastikschüsseln, damit sie ihnen Essen bringen und dann geben sie das ersparte Geld für Zigaretten und anderes aus. „Das was man isst muss man sich verdienen, so kann dir niemand vorhalten was du alles gratis bekommen hast. Ich habe meine Kinder nie zum betteln geschickt. Sie waren immer sauber, selbst wenn sie Müll sammelten. Die Mütter, die ihre Kinder im Dreck stecken lassen müsste man bestrafen.“ In Bratislava bekam Mirta viel Beifall. Sie freundete sich mit Frauen aus Russland, Jamaika, Afrika, Italien, Holland, Guatemala, Deutschland und mit rumänischen Zigeunerinnen an. Sie nahm an Workshops zu den weltweiten Problemen der Frauen und Kinder, und an nächtlichen Märschen mit brennenden Kerzen teil. Im Anschluss daran besuchte sie München und das Familienzentrum in Poing. „Allerdings hatte ich damals keine Ahnung wo dieser Ort überhaupt liegt. Wir haben dort den Bürgermeister kennengelernt, und er hat uns sogar schon in Suarez besucht!“. Sie kehrte aus Bratislava mit dem Versprechen zurück, dass Freunde sie jetzt unterstützen wollten. Auch die internationale Organisation MINE würde ihr helfen ein Mütter-und Familienzentrum nicht nur in Suarez sondern auch in Santa Fe zu verwirklichen. In Suarez ist kein Fleckchen frei geblieben, weil die Bevölkerung mit der Armut wächst. Mirta hatte schon immer ein Auge geworfen auf den Kirchgarten der Kapelle Vicente Catalano mit dem daneben stehenden Rohbau, der nie fertig gebaut wurde und der die einzige Rasenfläche im Viertel zu bieten hat. Den Vertrag mit der Kirche haben die Deutschen erst kürzlich unterschrieben. „Es dauert nur noch ein wenig und wir können anfangen“. Das künftige Mütterzentrum in Josè Leòn Suàrez wird Angebote und Kurse für viele Familien im Viertel anbieten und dabei Psychologen und Lehrer auch mit einbinden. Die Frauen werden sich abwechselnd um die Kinder kümmern und dafür einen kleinen Lohn erhalten. Die Gründungsgruppe besteht aus Sonia, Norma, Nancy, Sivina, Margarita, Monica und Mirta. Ziel des Zentrums ist auch eigene Mittel zu generieren. Nichts wird ganz umsonst sein. Ein kleiner Beitrag wird für den Mittagstisch verlangt, „lernen zu essen und nicht mehr abhängig sein vom reinen Klientelismus. Anfangs wird es sicher nicht leicht sein und es wird auch Konflikte geben, aber ich bin gut vorbereitet weil ich die Situation und alle gut kenne.“ Mirta ist hart gestählt und ausgerüstet mit einem dicken Fell und sie macht keine Anstalten die nach Aufgabe klingen. Ihr Blick verliert sich in der Ferne, auf die Frage ob ihr Platz in Josè Leòn Suàrez ist, antwortet sie: ich habe nie an etwas anderes gedacht, als arm zu sein und es irgend wann hinter mir zu lassen. Ich denke, dass wir jetzt mit dem Mütterzentrum etwas haben was uns einen Anstoß gibt, damit wir da raus kommen. Ich will sehen dass das Zentrum gebaut wird, dass es fertig wird, dass es funktioniert, aber für mein Leben nicht mehr. Es wäre schön wenn alle Leute von hier weggehen könnten.“ Im Zug zurück reist eine dunkelhäutige dünne Frau mit mehreren Piercings. Sie liest gerade das Gedicht des „Mio Cid“. Ihr Blick hebt sich nicht ein einziges Mal. Da denke ich an Lalo und dass er sich auch oft wie ein Poet und Intellektueller ausdrückt und denke an Mirtas Wunsch, dass am Tisch gegessen wird. Maria Walsh hat es vor einiger Zeit gesungen: „Dass in deinem Haus nie fehle – Bettwäsche und ein Tischtuch, daneben Bücher, Bücher um sich aus jedem Ort zu retten wo es Traurigkeit gibt.“

 

 

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